Áustria, Die Presse, Alemão

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Er war das Zentrum des Denkens und Fühlens von Anton Bruckner.

Schon den Zeitgenossen galt das als ausgemacht. Man nannte den Komponisten „Der Musikant Gottes“ – und das war in jener Ära bereits für die wenigsten kunstsinnigen Menschen ein Ehrentitel. Viel eher hat man sich über die offenkundig zur Schau getragene Frömmigkeit dieses Mannes lustig gemacht, der sich als Musiker doch eher an den unverkennbar erotisch konnotierten Klängen von Richard Wagners „Tristan und Isolde“ orientierte und nicht davor zurückschreckte, ebendiese Klänge auch für seine geistlichen Werke nutzbar zu machen. Die Diskrepanz, der tiefe Graben waren offenkundig, die zwischen der Lebensrealität eines – wenn auch ungewollt – zölibatär lebenden Kulturschaffenden und seiner Kunst klaffte, einer Kunst, die doch so vollkommen auf der Höhe seiner Zeit stand, die sogar ungeniert in jene Regionen vordrang, die konservative Kreise als „Zukunftsmusik“ verachteten und nach Leibeskräften zu verhindern trachteten.

Zahllos sind die ihrer Dimension nach kleinen und kleinsten Versuche des jungen Anton Bruckner, nebst Gelegenheitskompositionen höchst weltlicher Natur auch seinem im wahrsten Sinne und Tag für Tag in akribisch protokollierten Andachten angebeteten Schöpfer Tribut zu zollen. Aber der Kirchenkomponist Bruckner, dessen früher Ruhm vor allem auf seinen beeindruckenden Orgelimprovisationen fußte, entpuppte sich in Wahrheit ebenso spät wie der nachmals so berühmte Symphoniker: Die später als Nr. 1 gezählte C-Moll-Symphonie entstand quasi gleichzeitig mit der ersten der drei großen Vertonungen des katholischen Mess-Ordinariums. Bruckner war bereits 40 Jahre alt und seit einem Jahrzehnt hoch geachteter Organist in Linz.

Dass er auch einer der bedeutendsten Komponisten seiner Ära war – oder vielleicht besser gesagt: dass er das werden konnte – das ging den Aufmerksamen unter den Musikfreunden vielleicht mit der Uraufführung der Messe in d-Moll auf. Bruckners erste von drei Vertonungen des Ordinariums erklang erstmals am 20. November 1865 im Linzer Dom und beeindruckte die Zeitgenossen dermaßen, dass wohlwollende Mäzene sogleich eine Konzertaufführung arrangierten, die bereits am 18. Dezember den ersten Triumph des Komponisten besiegelt: Er selbst schreibt an einen Freund: „Meine Messe wurde . . . als Concertspiritual im Redoutensaal aufgeführt durch Veranstaltung mehrerer Musikfreunde. Daß letzteres so außerordentlich besucht, ja überfüllt war, sei Dir als Beweis, wie sie in der Kirche angesprochen hat, was mich umso mehr wundert, da die Composition sehr ernst u. sehr frei gehalten ist.“

„Sehr ernst und sehr frei“, das bezeugt Bruckners Selbstverständnis als Komponist. An irgendwelche Konzessionen, um beim Publikum anzukommen, dachte er offenbar nie. Dafür gewann er die Aufmerksamkeit und die Hochachtung von Kennern. Zunächst sogar jene des gefürchteten Musikkritikers Eduard Hanslick, der sich später als einer der geharnischten Bruckner-Gegner entpuppen sollte. 1865 aber lagen die Dinge anders. Am 11. April ließ Hanslick in seiner „Neuen Freien Presse“ drucken: „Die Linzer Tagesblätter bringen wiederholt eingehende Besprechungen einer Messe von Anton Bruckner, welche dort ungewöhnliche Sensation erregt hat. Der Komponist, gegenwärtig Domorganist in Linz, einer der besten Schüler des Wiener Konservatoriums und renommierter Orgelspieler, ließ diese Messe kürzlich in der Domkirche aufführen. Die (als ergreifend und originell geschilderte) Musik machte auf die Hörer einen solchen Eindruck, daß man ein eigenes ‚Konzert-Spiritual‘ arrangierte, um darin Bruckner’s Messe vollständig zu wiederholen.“

So drang erstmals Kunde von einem aufstrebenden Meister in die kaiserliche Hauptstadt. Von einer Übersiedlung dorthin konnte allerdings noch lang nicht die Rede sein. Auch wenn der damals noch wohlgesinnte Hanslick 1866 drängte, Bruckner möge doch in Wien ein Orgelkonzert in Wien geben. Der angesehene Linzer Organist war in jenen Jahren noch nach Kräften bemüht, sich auch für die Laienchöre seiner Stadt zu engagieren und etwa mit der „Liedertafel Frohsinn“ kleine Chorwerke zur Aufführung zu bringen, die bei „Damenabenden“ zum Besten gegeben wurden. So erklang im Umfeld der Uraufführung der Messe in d-Moll ein neues „Abendlied“, das – wie alle die weltlichen Chorstücke jener Zeit aus Bruckners Feder – noch den frühromantischen Vorbildern Felix Mendelssohn-Bartholdy oder Robert Schumann nacheiferte. Und das, obwohl in der Messe eindeutig viel kühnere Wege beschritten wurden – ein ästhetisches Kontrastprogramm, das verstehen lässt, warum der Komponist von der Messe sagte, sie sei „sehr ernst und sehr frei“. Immerhin trällern im „Herbstlied“, wenn im Text Franz von Sallets „von der Nachtigall Gesang“ die Rede ist, zwei Sopranstimmen pittoresk lautmalerisch nach Art der damaligen Salonmusik – woraufhin die „Linzer Zeit“ schrieb: „. . . doch finden wir den Eintritt der Frauenstimmen wegen der Träumerei von dem Nachtigallen-Gesange zu weit hervorgeholt . . .“

Solang er sich kompositorisch lediglich mit Liedertafel-Romantik hervorgetan hatte, konnte die Anerkennung des Linzer Organisten nicht allzu hoch steigen. Die Erstaufführung der großen Messe aber brachte eine Wende mit sich. Noch im Oktober 1864 hatte der private Musiklehrer Bruckner, der mit Stundengeben seinen kärglichen Lohn aufbesserte, über wenig Kundschaft geklagt. Der Erfolg im Genre der Kirchenmusik aber bescherte ihm plötzlich etliche Anfragen aus den bürgerlichen Kreisen der oberösterreichischen Hauptstadt. Der Mann konnte ja tatsächlich vielleicht berühmt werden . . .

Bruckner wusste auch instinktiv, wie er das nun ein wenig üppiger fließende Geld gewinnbringend anlegen könnte: 100 Gulden wollte er in eine mögliche Aufführung seiner D-Moll-Messe in Wien und die Herstellung eines Klavierauszugs investieren. Allerdings nagten die Unterrichtseinheiten des Privatlehrers Bruckner am Arbeitskonto des Komponisten. Parallel zur Messe war eine Symphonie in c-Moll entstanden, die Ende 1865 immerhin schon Konturen annahm: Ein erster Satz war im Grunde fertig, der dritte, das Scherzo, lag in groben Zügen vor. Das war jenes Werk, das später als „Symphonie Nr. 1“ in die Musikgeschichte eingehen sollte.

Eine Ablenkung ganz anderer Art sollte sich hingegen als äußerst fruchtbar erweisen. Mitte 1865 lud Richard Wagner die Musikwelt nach München, um sein kühnstes Werk erstmals zu präsentieren: Die Uraufführung von „Tristan und Isolde“ wurde zwar wegen einer hartnäckigen Erkrankung des Tenors mehrmals verschoben. Aber Bruckner wollte sich die Gelegenheit, die Novität live zu erleben, nicht entgehen lassen und reiste in Begleitung eines Freundes in die bayerische Metropole. Immerhin war er bereits populär genug, dass die „Linzer Zeitung“ vom 7. Juni 1865 es berichtenswert fand, „daß am 10. Juni dieses Jahres zu München die Erstaufführung von R. Wagner’s ‚Tristan und Isolde‘ stattfinden wird und der Linzer Theaterdirektor Pichler, sowie der Compositeur Bruckner derselben beiwohnen“ würden.

Wagners „Tristan und Isolde“ erlebte Bruckner bereits in der Münchner Uraufführungs-Besetzung mit Ludwig und Malvina Schnorr von Carolsfeld.

Wagners „Tristan und Isolde“ erlebte Bruckner bereits in der Münchner Uraufführungs-Besetzung mit Ludwig und Malvina Schnorr von Carolsfeld. Wikipedia

In München lernte Bruckner den russischen Komponisten und Musikpädagogen Anton Rubinstein kennen, der wie er im Hotel „Vier Jahreszeiten“ logierte. Rubinstein nahm die Partitur von Bruckners C-Moll-Symphonie in Augenschein und fand sie höchst beeindruckend. Er blieb dem österreichischen Kollegen übrigens bis an sein Lebensende freundlich gesinnt.

Rubinstein war es auch, der Bruckner mit dem Dirigenten Hans von Bülow bekannt machte und ihm empfahl, die vollendeten Teile der Symphonie doch zu begutachten. Das wiederum hatte weiterreichende Folgen, denn es kam zu einer Begegnung mit dem verehrten Meister Richard Wagner, über die Bruckner einem Freund referierte: „Er war ungemein lieb und freundlich zu mir und hat mi bald gern g’habt und aus’zeichn’t.“ Die Symphonie wagte er Wagner freilich nicht vorzulegen: „I hab mi net ’traut, i war zu bescheiden und hab’ dem Meister nix sehen lassen. . . . Zeigt hab’ ich ihm damals gar nix von eigenen Kompositionen und auch nur an einzigen ‚Tristan‘ hören können.“ Der allerdings tat seine Wirkung. Das Abendplakat der Münchner Vorstellung gehörte bis zum Tod zu Bruckners geliebten Devotionalien.

Den harmonischen Abenteuern der Symphonik des Komponisten war damit der Weg gewiesen. Den Zeitgenossen galt Wagner, und aus seinem Schaffen insbesondere der „Tristan“, als absoluter Grenzwert des innerhalb der gängigen Dur-Moll-Tonalität Erreichbaren. Die Musik zu diesem Musikdrama galt als Extremwert, einem nicht unbeträchtlichen Teil des damaligen Publikums viel zu kühn, um noch als „schön“ bezeichnet zu werden. Für die Nachgeborenen markierte die Uraufführung in München den Beginn einer musikalischen Moderne, die ein halbes Jahrhundert später in die sogenannte Atonalität führte. Den Weg dorthin erkundeten einige führende Komponisten in Wagners Gefolge – und Anton Bruckner sollte im Konzertsaal deren entschiedener Anführer werden, was ihm bald die Gegnerschaft des konservativen Kritikers Hanslick bescherte, dessen Schrift „Vom musikalisch Schönen“ zu so etwas wie dem Katechismus der Wagner-Gegner und der bewahrenden Kräfte im europäischen Musikleben wurde. Das viel zitierte „Kunstwerk der Zukunft“, das Richard Wagner vorschwebte und dessen rein musikalische Ästhetik jenseits der Opernbühne Bruckners Symphonien beschworen, hatte in den Augen der Siegelbewahrer der klassischen Tradition keine Daseinsberechtigung. Umso heftiger sollten die Kämpfe um Bruckners Werke toben.

Doch davon war man Mitte der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts noch weit entfernt. Und Bruckner selbst sollte mit seinem geistlichen Schaffen einen Konservativismus ganz anderer Art bedienen – freilich ohne das zu beabsichtigen. Seine zweite Mess-Kompositionen, die nur für Chor und Blasorchester gesetzte Messe in e-Moll von 1866 wurde zum Menetekel einer ganz spezifischen künstlerischen Geisteshaltung jener Epoche.

Titelblatt der Erstausgabe der außergewöhnlich besetzten zweiten Messe Anton Bruckners.

Titelblatt der Erstausgabe der außergewöhnlich besetzten zweiten Messe Anton Bruckners.Getty Images

Die Messe in e-Moll

Das Manuskript zu diesem schon von der Besetzung her außergewöhnlichen Werk wird im Linzer Domarchiv verwahrt. Der Komponist hat die Vollendung einiger der Sätze präzis datiert. Hinter dem Credo findet sich die Eintragung: 20. Oktober, nach dem Sanctus der 17. November. Hinter das Agnus Dei setzte Bruckner das Datum 22. Oktober 1866. Am 2. Dezember schreibt Bruckner an einen Freund. „Die Messe, 8-stimmig, vokal mit Harmoniebegleitung, zur Einweihung der Votivkapelle ist fertig.“ Daraus ist angesichts der Bruckner-Chronologie zu schließen, dass der Komponist nach der Vollendung seiner Ersten Symphonie eine kürzere Schaffenspause eingelegt hat. Die Monate vor der Komposition der Messe waren gezeichnet von einer tiefen seelischen Krise. Hoffnungen auf eine Verehelichung hatten sich zerschlagen und die fortwährende offenkundige Geringschätzung, die man ihm im offiziellen österreichischen Musikleben entgegenbrachte, verursachte depressive Zustände. Sie sollten sich ein paar Monate nach Vollendung der e-Moll-Messe endgültig entladen. Doch führte der Schaffensdrang den Komponisten in diesem Werk noch einmal auf eine zuvor ungeahnte Höhe inspirativer und formaler Meisterschaft, die sich offenbar – wie schon bei der vorangegangenen Messe in d-Moll – innerhalb weniger Wochen im Sommer und Herbst 1866 Bahn brach.

Die Musik der zweiten Messe erstaunt Hörer noch 150 Jahre später – nicht allein wegen der kargen Klangfärbung des nur durch Blasinstrumente begleiteten, oft a cappella singenden Chors. Am allermeisten verblüfft bis heute die harmonische Herbheit, die auf völlig ungewöhnliche Weise den polyphonen Stil des 15. und 16. Jahrhunderts mit der an der Erfahrung der Musik Wagners und Liszts geschulten „neudeutschen“ Hochromantik verschmilzt.

Die archaisierenden Tendenzen einer Rückwendung zur Hochblüte der Renaissance-Musik werden durch die einzigartige Vermählung mit „modernen“ Tendenzen aufgehoben. Es ist etwas völlig Neuartiges, das Bruckner hier gelingt, erinnerte die Zeitgenossen freilich auf zauberische Weise an die Alten Meister. Und eine solche Erinnerung stand hoch im Kurs!

In gewisser Weise schuf Anton Bruckner mit dieser Musik ein Gegenstück zum architektonischen Historismus der franzisco-josephinischen Epoche. Damit gelang ihm ein maßstabsetzendes Werk für eine Bewegung in der katholischen Kirchenmusik, die erst drei Jahre nach Veröffentlichung der Bruckner-Messe offiziell ins Leben gerufen wurde, als ein gewisser Franz Witt einen „Cäcilienverein“ gründete, der sich anschickte, die klassischen Messkompositionen vollständig aus der religiösen Praxis zu verdammen. Die orchesterbegleiteten Messen eines Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart waren bigotten Christen ein Gräuel. Man suchte nach Wiederbelebung der alten, polyphonen geistlichen Musik und hob die Werke Giovanni Pierluigi Palestrinas auf den Schild. An seinen Kompositionen sollte sich die künftige Kirchenmusik orientieren. Sie verkörperte Reinheit, Glaubenskraft und schien sich jeglichem künstlerischen Hedonismus zu verweigern.

Diese Tendenz war nicht so sektiererisch, wie es im Nachhinein den Anschein haben könnte: Sie wurzelte in einer höchst romantischen Begeisterung für die Besinnung auf Althergebrachtes. Es war E. T. A. Hoffmann, der schon 1814 über „Alte und neue Kirchenmusik“ geschrieben und damit eine Diskussion losgetreten hatte, die in A. F. J. Thibauts Schrift „Über die Reinheit der Tonkunst“ im Jahr 1825 einen ersten Gipfelpunkt erreichte. Die Cäcilianisten bauten auf stark befestigtem Grund – mit einiger Rückendeckung aus Rom. Bruckners e-Moll-Messe hätte ihrer Bewegung nun ein einzigartig qualitätvolles Muster schaffen können, an Palestrinas Kunstfertigkeit orientiert, harmonisch, aber die Möglichkeiten der zeitgenössischen Musik nutzend, ohne die alten Formen zu sprengen.

Das Problem daran, ästhetisch betrachtet, war eben diese Einzigartigkeit. Tatsächlich nämlich war neben Bruckner kein einziger Komponist jener Epoche imstande, ein Werk von solchen geistigen Dimensionen, auf solch handwerklicher Höhe zu schreiben. Und jene Komponisten, deren künstlerische Potenz dazu ausgereicht hätte, schrieben keine Messen – die einschlägigen Werke des (ebenso wie Bruckner tief katholischen) Franz Liszt vielleicht ausgenommen, die allerdings anerkanntermaßen nicht zu seinen stärksten Eingebungen gehören.

Bedenkt man den Stellenwert, den der Legende nach – und von Hans Pfitzner später sogar auf die Opernbühne gebracht – Palestrina angesichts der reformatorischen Tendenzen des Tridentinischen Konzils eingenommen hat, so wäre Bruckner in den Augen der Cäcilianer so etwas wie ein „Retter der Kirchenmusik“ gewesen. Mangels kongenialer Mitstreiter war dieser Versuch freilich zum Scheitern verurteilt.

Für Bruckner spielten solche theoretisch-ästhetische Grundsatzüberlegungen freilich keine Rolle. In seinem autonomen Schaffen nimmt die e-Moll-Messe jenseits ihrer liturgischen Bedeutung einen besonderen Platz ein. Auch in seiner Symphonik sollte in der Folge die charakteristische Vereinigung historisierender Tendenzen mit einer zukunftsweisend kühnen Harmonik und Formgebung eine eminente Rolle spielen – und das Zukunftsweisende war es, das die Zeitgenossen wahrnahmen; zunächst als verstörend, bald aber in bestimmten Kreisen auch als Zeichen eines kraftvoll vorantreibenden Fortschrittsgedankens. Eine „Modernität ohne nervöse Überreizung“, wie Biograf August Göllerich so treffend angemerkt hat.

Bruckner war, das irritierte auch noch die Nachwelt, ein künstlerischer Januskopf. Als treuer Schüler des strengen Simon Sechter hatte er etwa die althergebrachten Regeln des Kontrapunkts verinnerlicht – er sollte sie als Lehrer am Wiener Konservatorium später auch an die kommende Generation weitergeben. Doch für sein eigenes Schaffen bedeutete die vollkommene Beherrschung des Regelwerks stets nur ein Fundament, auf dem sich fantasievoll aufbauen ließ. Gerade in der e-Moll-Messe finden wir Elemente wie die komplexe Fuge im Gloria, die mit den überkommenden kontrapunktischen Vorschriften so gar nicht zu erklären ist, aber in sich wiederum einen Grad formaler Vollkommenheit erreicht, der seinesgleichen in der romantischen Musik kaum hat. Wie für alle kommenden kontrapunktischen Abenteuer in Bruckners Symphonien gilt hier bereits, was Wagners Hans Sachs seinem „Schüler“ Walther von Stolzing rät, als der ihn beim Komponieren fragt: „Wie fang ich nach der Regel an?“: „Ihr stellt sie selbst, und folgt ihr dann.“ Bruckner selbst hat diesbezüglich einmal geäußert: „Kontrapunkt ist nicht Genialität, sondern nur Mittel zum Zweck.“

Erfolge und eine Nervenkrise

Auch in der Folge hat Bruckner – von Wagner einmal abgesehen – keine Gelegenheit ausgelassen, die viel diskutierten aktuellen Kompositionen seiner Kollegen zu hören und ebenso die wichtigsten Stücke der Wiener Klassik, allen voran die Neunte Symphonie von Ludwig van Beethoven, deren immense formale Ausdehnung und inhaltlicher Reichtum für ihn ebenso bedeutsam waren wie für den Bayreuther Opernmeister Wagner. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, diese Symphonie zu hören, war Bruckner bereit, eine weitere Reise anzutreten. Nach Wien fuhr er in jenen Jahren aber auch, um etwa die kaleidoskopisch-visionäre Verarbeitung des „Faust“-Stoffes durch Hector Berlioz zu erleben, „La damnation de Faust“, die im Dezember 1866 im Wiener Redoutensaal gegeben wurde.

Etwa in jener Zeit wurden, was Wien betrifft, wichtige Weichen für Bruckner gestellt. Und zwar durch Johann Herbeck, den nachmaligen Hofoperndirektor, der eine der bedeutendsten Erscheinungen im Musikleben der Residenzstadt war. 1865 hatte er die wiederentdeckte „Unvollendete“ Symphonie von Franz Schubert aus der Taufe gehoben, im Jahr darauf war er zum Leiter der Hofmusikkapelle geworden. Und also solcher war er für die Gottesdienste in der kaiserlichen Hofburg zuständig, wo er im Februar 1867 Bruckners d-Moll-Messe als aufsehenerregende neue geistliche Komposition zur Wiener Erstaufführung bringen wollte. Herbeck war ein Verehrer von Bruckners Kunst. Er war es auch, der als Mitglied der Prüfungskommission, der sich Bruckner untertänig stellte, verkündete: „Er hätt’ uns prüfen sollen!“

Bruckner schrieb nach der Ankündigung, seine in Linz so erfolgreiche Messe würde in Wien aufgeführt, an Herbeck: „Ich finde in der That wahrlich keinen Ausdruck Ihrer Liebenswürdigkeit gegen mich. Mein Innerstes wird lebenslänglich die Dankesgefühle wie die tiefste Verehrung für Sie als schon in aller Welt hochgefeierten Künstler und großen Wohlthäter zu bewahren wissen.“

Für Herbeck kamen die Berichte von Bruckners erfolgreicher Messe-Komposition gerade recht. Der Zeitgeist hat nicht gerade viel bedeutende geistliche Musik hervorgebracht. Hier war eine rühmliche Ausnahme, die es ermöglichen konnte, die vollkommen verkrusteten Praktiken der Wiener Hofmusikkapelle (gebildet aus den Wiener Sängerknaben und Mitgliedern des philharmonischen Hofopernorchesters) aufzubrechen. Eben das war erklärtes Ziel des kaiserlichen Obersthofmeisters Fürst Constantin Hohenlohe-Schillingfürst, der 1865 das Erbe des Fürsten Liechtenstein angetreten hatte. Unter dessen Ägide war es zu einer völligen Verarmung und Verkrustung der Musizierpraxis bei den Gottesdiensten gekommen. Die Hofkapellmeister Randhartinger und Preyer hatten in der Regel eigene Werke zum Besten gegeben oder Messen Haydns und Mozarts in ziemlich verstümmelter Form. Nun sollte ein neues Qualitätsbewusstsein einkehren. Herbeck, als bisheriger Vizehofkapellmeister völlig unbeschäftigt, sollte verstärkt zum Zug kommen. Überzeugungsarbeit leistete er mit der Einbeziehung von Franz Schuberts Messe in G-Dur, die durchschlagenden Erfolg hatte. Beethovens C-Dur-Messe und ein Werk Luigi Cherubinis folgten. Die in Linz so hochgelobte d-Moll-Messe Bruckners sollte nun ein zeitgenössisches Beispiel für ebenso würdige wie künstlerisch hochwertige Ausgestaltung der Liturgie sein.

Was diese Aufführung für Bruckners Leben bedeutete, kann man angesichts seines bisherigen Werdegangs durchaus ermessen: Ein Auftritt an geweihtem Ort in der Musikmetropole Wien war für den Komponisten wie ein Initiationsritus. Freilich, mit Kirchenmusik konnte man sich in breiten Kreisen kaum Aufmerksamkeit sichern. Aber ein erster Schritt war getan.

Die psychische Krise Anton Bruckners war damit freilich nicht abzuwenden. Sie steuerte ihrem Höhepunkt zu. Anton Bruckner wurde auf Kur geschickt: Bad Kreuzen bei Grein, in der Nähe von Linz, sollte Heilung bringen – mehr als ein Jahrhundert später hat der Filmemacher Ken Russell dieser Episode des Komponistenlebens ein liebevoll-ironisierendes Denkmal in Form eines Kurzfilms gesetzt.

»Bruckner war ein Gläubiger ohnegleichen. Er glaubte mit einer Innigkeit und Kraft, die ans Wunderbare grenzte.«

Franz Schalk

Bruckner selbst war damals nicht nach Ironie zumute. Er schrieb an einen Freund: „Magst Du Dir denken oder gedacht haben – oder gehört haben was immer! – ! Es war nicht Faulheit! – es war noch viel mehr!!! – !; es war gänzliche Verkommenheit und Verlassenheit – gänzliche Entnervung und Überreiztheit!! Ich befand |fand mich in dem schrecklichsten Zustande; Dir, nur Dir gestehe ich’s – schweige doch hierüber. Noch eine kleine Spanne Zeit, und ich bin ein Opfer – bin verloren. Dr. Fadinger in Linz kündigte mir den Irrsinn als mögliche Folge schon an. Gott sei’s gedankt! er hat mich noch errettet.“

Die Messe in f-Moll

In die Zeit der Aufenthalte in der Nervenklinik fallen aber auch Erfolge. Die Erste Symphonie wird in Linz uraufgeführt und beschert Bruckner einen Zuspruch, der sich bis Wien durchspricht. Die „Neue Freie Presse“ vom 19. Mai 1868 verkündet: „In Linz kam kürzlich eine neue Symphonie von Anton Bruckner zur Aufführung und fand bei dem zahlreichen, sehr gewählten Publicum, wie bei der Kritik außerordentlich günstige Aufnahme. Der Componist wurde wiederholt gerufen. Wenn die Nachricht von Bruckners bevorstehender Anstellung am Wiener Conservatorium sich bestätigt, können wir dieser Lehranstalt nur gratulieren.“

Chefkritiker Hanslick sollte in dieser Causa bald ganz anderer Meinung sein. Aber im Moment schien der Komponist auf einer Erfolgswelle zu schwimmen, deren Stimmung ihn zu seiner dritten und letzten Messe-Komposition inspirierte. Die Messe in f-Moll, die späteren Generationen als eine der bedeutendsten Vertonungen des Ordinariums neben den größten Messen von Haydn, Mozart und Beethovens „Missa solemnis“ gilt, konnte Bruckner einige Wochen vor seiner Übersiedlung nach Wien fertigstellen.

Erste Skizzen dazu entstanden im August 1867, nach der Entlassung aus der Nervenheilanstalt. Wiederum entstand das Gesamtwerk innerhalb weniger Monate und war in groben Zügen bereits Ende 1867 vollständig skizziert. Gedacht war jedenfalls an ein neues Werk für die Wiener Hofkapelle. Herbeck erfährt denn auch als Erster von dem Plan: „Von meiner neuen Messe wird bald das Credo fertig werden. Kyrie und Gloria sind skizziert. Ich nehme mich sehr zusammen.“

Der Schaffensrausch, in den Bruckner verfallen war, wird von manch anekdotischer Erzählung dokumentiert. Karl Waldeck erinnerte sich, dass Bruckner eines Tages im November 1867 grußlos in sein Zimmer stürmte und am Klavier zu improvisieren begann. In einer kurzen Pause warf Waldeck ein: „Ja, das ist was Wunderbares! Was ist denn das für eine Komposition?“ Bruckner darauf: „Das ist das Credo zu meiner neuen Messe. Gefällt’s dir?“ Nach einem kurzen „Wunderbar!“ des Gastgebers, ging es weiter: „Wie gefällt dir dies?“, darauf Waldeck: „Nicht so gut wie das frühere.“ – und Bruckner: „Nun also, machen wir‘s anders“. Waldecks Bilanz dieser singulären Begegnung: „Da begann er von neuem diesen Teil und improvisierte eine ganz neue, originelle Fassung dieser Komposition.“ – „Wie gefällt dir jetzt das?“ – „Das ist freilich etwas ganz anderes; herrlich!“ – „Nun gut, dann soll es so bleiben“ – „Und so ist es auch geblieben und in dieser Form niedergeschrieben und aufgeführt worden.“

»Ich werde Ihnen was sagen: Ist die Geschichte wahr, desto besser für mich; ist sie nicht wahr, so kann doch das Beten auch nicht schaden.«

Anton Bruckner über das Jenseits

Vieles an der f-Moll-Messe klingt nun tatsächlich bereits, als hätte der Komponist hier eine Symphonie mit Chor komponiert. Das stürmische Crescendo beim „Et resurrexit“ könnte aus einem der Allegrosätze stammen, die Introduktion zum Benedictus ist so etwas wie der Missing Link zwischen den späten Beethoven-Quartetten (etwa dem Adagio aus op. 135) und den Adagio-Sätzen Gustav Mahlers (etwa dem Finale der Dritten). Bruckner hat seinen Platz auf dem Pfad der österreichischen Musikgeschichte gefunden.

Wobei diese Benedictus-Melodie ihre Entstehung durchaus der persönlichen Situation Bruckners verdankt: Einem Freund berichtete er, sie sei ihm am Weihnachtsabend 1867 „nach einer Stunde brünstiger Andacht“ eingefallen, in der er, der dem Irrsinn nahe gewesen, sich „wieder gefunden habe“.

Wir dürfen auch auf den emotionalen Gehalt mancher Passagen in Bruckners Symphonien schließen, wenn sich Zitate aus den geistlichen Werken wiederfinden. Etwa das besagte Benedictus im langsamen Satz der Zweiten Symphonie.

Das Magazin

Ein Auszug aus dem gemeinsamen Magazin für zwei Jubiläen: 50 Jahre Brucknerhaus, 200 Jahre Anton Bruckner.

Das Magazin ist im Brucknerhaus Linz, im Handel oder unter diepresse.com/geschichte zum Preis von 14 Euro erhältlich.

Dieses Magazin wurde von der „Presse“ in Unabhängigkeit gestaltet. Es ist mit finanzieller Unterstützung der LIVA – Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH möglich geworden.

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